Kleine Fluchten
Brandenburg: Südlich von Berlin liegen die idyllischen Storkower und Teupitzer Gewässer. Rauf aufs Boot, raus aus der Großstadt – und rein ins Grüne!
Blechkarawane, Stoßstange an Stoßstange. Auf den großen Zufahrtsstraßen „jeht jar nischt“, wie der Berliner sagt, mal wieder. Wochenanfang, ganz normal in dieser Riesenstadt. Irgendwo voraus liegt eine Baustelle, und auf der Umgehung hat ein Laster Ladung verloren. Das Radio beweist Humor und spielt „Stau“ von Herbert Grönemeyer an – kein alltäglicher Titel. „Mehr Abwechslung“, feixt der Moderator.
So zieht es sich, von der Stadtautobahn quer durch Adlershof im Südosten Richtung Köpenick, und wir mittendrin. Es ist Mitte Mai, schönster Frühling, aber draußen riecht es nach Kupplung und Abgasen. Da sind wir doppelt froh, dass wir eigentlich nur in die Stadt wollen, um ihr schleunigst wieder zu entfliehen – mit dem Charterboot, das bei 5 Sterne Yachtcharter am Dahmeufer auf uns wartet.
Mit ansehnlicher Verspätung rollen wir im Hafen von Spreemarine an der Grünauer Straße „auf den Hof“, herrlich gelegen unter grünen Uferbäumen und mit Blick auf die im Sonnenschein leuchtende Barockfassade von Schloss Köpenick auf der anderen Flussseite. Man wartet schon auf uns, aber bevor wir die Bootsübernahme starten, gibt’s einen entspannenden Kaffee im Büro von 5 Sterne Yachtcharter: „Erstmal ankommen und abschalten“, lautet die freundliche Begrüßung.
Dienstbesuch beim „Hauptmann“
Nach den Formalitäten geht es an Bord der „Aries“, einer nagelneuen Linssen Grand Sturdy 36.9 AC, „unserer“ Yacht für die nächste Woche. Die edle Niederländerin präsentiert sich außen wie innen im Topzustand, und bei der Ausstattung macht 5 Sterne Yachtcharter seinem Namen wirk-lich alle Ehre: Federbetten, Bademäntel und warme Fleecedecken, Handtücher und Toilettenartikel sorgen durchaus für Hotelstandard, und auch die Bestückung der Pantry lässt vom Geschirrtuch bis zum Toaster keine Wünsche offen. Für die Unterhaltung sorgen CD-Radio mit Außenlautsprecher und der TV-Flachbildschirm mit DVD-Player und DVB-T-Empfang im Salon. Dank Bug- und Heckstrahlruder lässt sich der 11,10 m lange Stahlverdränger auch in „engeren“ Situationen problemlos manövrieren (weitere Infos zu Charterfirma und Boot finden Sie auf Seite 83). Die Verpflegung für den Törn kann man ebenfalls beim Vercharterer vorbestellen und an Bord liefern lassen. Ansonsten kann man beispielsweise bei Kaiser’s an der Oberspreestraße gut einkaufen; der Supermarkt liegt etwa 400 m vom Hafen entfernt und hat von 8 bis 24 Uhr geöffnet.
Am Abend geht es über die Brücke hi-nüber nach Alt Köpenick. Am hohen Backsteinbau des Rathauses mit seinem unverwechselbaren wilhelminischen „Charme“ kommt man nicht vorbei; so ging es auch dem Mann, der heute an seiner nordwestlichen Ecke steht: eigenlich unscheinbar, „kleen“, mit schmalem Gesicht und buschigem Schnauzer – wäre da nicht die Uniform: Wilhelm Voigt.
Kleider machten bekanntlich schon immer Leute; zu Kaisers Zeiten wurde dem „bunten Rock“ der preußischen Armee fast so viel Verehrung entgegengebracht wie dem Allmächtigen selbst; und so schaffte es auch der einfache Schuster Voigt, im Jahr 1906 ein „janz jroßet Ding“ zu drehen: Er verkleidete sich als Hauptmann, kommandierte eine Gruppe Soldaten von der Straße weg und marschierte geradewegs zum Köpenicker Rathaus, wo er den Bürgermeister verhaften ließ und die Gemeindekasse einkassierte, bevor er sich mit einer Droschke aus dem Staub machte. Die Legitimität seines Vorgehens hatte keiner der Überrumpelten in Frage gestellt – schließlich hatte er ja Uniform getragen. Inzwischen steht der „Hauptmann von Köpenick“, längst Legende, als Denkmal wieder vor dem Rathaus; nur rein kommt er nicht mehr.
Stilecht speisen wir eine Treppe tiefer im urigen Gewölbe des „Ratskellers“. Aufgetischt wird auch Wilhelm Voigts „Leibgericht“: Schweinshaxe mit Schwarzbier- soße, Kraut und Erdäpfeln (11,50 Euro). Deftig! www.ratskeller-koepenick.de
In Begleitung einer Dahme
Grau hängt es am nächsten Morgen über der Hauptstadt, als wir die Leinen loswerfen und den Bug unserer Linssen nach Süden wenden. Auf der Spree-Oder-Wasserstraße (SOW), die zwischen Köpenick und Schmöckwitz im Süden von der Dahme gebildet wird, kommt uns gleich ein Schuber entgegen, der einen breiten Leichter voller Sand für eine der zahlreichen Großbaustellen entlang der innerstädtischen Spree vorgespannt hat – Berlin wird noch immer „aus dem Kahn gebaut“.
Mit den erlaubten 8 km/h geht es stromaufwärts; an Steuerbord zweigt bald der Teltowkanal ab, der über eine Länge von 38 km die südliche Verbindung zur Havel bei Potsdam bildet. Wir „begleiten“ die Dahme aber weiter, passieren das Gelände Mitschiffs Werft (vormals VEB Yachtwerft Berlin), wo Schleppboote und Ausflugsdampfer auf Slipwagen im Nieselregen auf ihre Schönheitskur warten, und kommen auf den Langen See mit seiner Zwei-Kilometer-Regattastrecke zwischen bewaldeten Ufern. Die Stadt mit ihrer dichten Bebauung, den Werkshallen und mehrstöckigen Häusern ist plötzlich passé, wir sind im Grünen – und schon fast wieder aus Berlin heraus.
Südlich von Schmöckwitz verabschiedet sich die SOW mit dem Spree-Oder-Kanal nach Osten; wir folgen nun der Dahme-Wasserstraße (DaW) nach Brandenburg hinein. Am Westufer des Zeuthener Sees warten Ausflugslokale mit schattigen Biergärten und Bootsstege auf gestresste Großstädter, prachtvolle Villen aus der Gründerzeit schlummern halb verborgen hinter uralten Eichen.
10 km/h gegenüber dem Ufer sind in der Regel erlaubt, auf Seen und „seenartigen Verbreiterungen“, also bei einem Uferabstand von 250 Metern und mehr, sind es 25 km/h – allerdings nur außerhalb des „ufernahen Schutzstreifens“ von 100 Metern Breite. Innerhalb dieses Streifens liegt das Tempolimit dann bei 12 km/h. Das gilt auch für die anderen Wasserstraßen, die wir auf diesem Törn noch vor uns haben: zunächst die Storkower Gewässer (SkG) bis Bad Saarow und danach die Teupitzer Gewässer (TpG) (weitere nautische Informationen zum Revier finden Sie auf den Seiten 84-85).
Preußens Streusandbüchse
Die erste Schleuse des Törns öffnet Klappbrücke und Untertor um kurz vor zwei Uhr am Nachmittag in „Neue Mühle“. Kurz zuvor haben wir den Berliner Autobahnring unterquert – und uns damit endgültig aus der Peripherie der Metropole verabschiedet. Zu den ersten Sonnenstrahlen des Tages laufen wir bei DaW-km 9,5 in die Kammer ein, zusammen mit einem piekfeinen Jollenkreuzer vom Wannsee und einem leicht verwitterten Kajütboot. Aus dessen Schlupfkoje dringt nicht nur der Geruch von Dosen-Ravioli, sondern gleichzeitig auch die größten Erfolge von „Karat“ und breiten sich – sehr zum Missfallen des gut gebräunten Wannsee-Skippers – in der Schleusenkammer aus.
Östlich des lang gestreckten Krüpelsees windet sich der Fluss bei Bindow in das Gebiet des Naturparks Dahme-Heideseen hinein, der sich von hier bis Storkow im Nordosten und Teupitz im Südwesten erstreckt. Tiefe Kiefernwälder und sandige Böden prägen sein eigenwilliges, leicht gewelltes Gesicht, das von der letzten Eiszeit geformt wurde. So viel Sand, dass man sogar heute noch weit von der Küste entfernt Dünen treffen kann. Der karge Boden, dem nur mühsam etwas abzuringen war, führte schon früh dazu, dass die Mark Brandenburg in ganz Deutschland als Preußens „Streusandbüchse“ bekannt wurde. www.mugv.brandenburg.de
Nach dem flachen Dolgensee, der unbedingt im betonnten Fahrwasser durchquert werden muss, verlassen wir die Dahme bei Wasserstraßen-km 25 bei der Ortschaft Prieros und schwenken nach Nordosten auf die hier beginnenden Storkower Gewässer. Es ist schon nach vier Uhr nachmittags, als unsere Linssen den Wolziger See erreicht und mit dem Bug einen kleinen Hafen am Westufer anpeilt.
Gekennzeichnet mit der „Gelben Welle“, liegt dort die schmale Einfahrt zum Hafen des Gasthauses „Zur Fischerhütte“ mitten im Grünen. Das kleine, rechteckige Hafenbecken der ehemaligen Fischereigenossenschaft bietet längsseits etwa Platz für fünf 10-m-Yachten, die Wassertiefe ist mit 1,30 m ausgewiesen. Service: Strom, Wasser, Sanitärgebäude mit Duschen. Liege-gebühr: 1 Euro/Meter, Toiletten und Dusche: 3 Euro pro Person. Strom wird nach Verbrauch abgerechnet.
Aus der Räucherbude steigt vielsagender, blauer Rauch auf; das Resultat wird direkt am Tresen des kleinen Verkaufsraumes der Fischerei auf die Hand verkauft. Das angrenzende Restaurant bietet am Abend ebenfalls lokalen Fisch wie Zander und Wels an. www.fischerei-blossin.de
Über das Märkische Meer
Der Wolziger See und der etwa zehn Kilometer entfernte Große Storkower See werden durch den Storkower Kanal verbunden. Zu Beginn folgt er einem natürlichen Fließ durch feuchtes Auenland und Bruchwald, danach verläuft er in weitaus geordneteren Bahnen. Gut zwei Kilometer östlich der Schleuse Kummersdorf (SkG-km 10,25) befindet sich im Dorf Philadel- phia die niedrigste feste Brücke des Törnreviers: 3,69 m beträgt die Durchfahrts-höhe bei mittlerem Wasserstand; auf die beidseitig vorhandenen Pegel achten! In Storkow selbst warten eine Schleuse (SkG-km 15,4) und eine Klappbrücke auf uns; beide werden mit den Anforderungsschaltern an den Wartestellen selbst bedient und liegen erstaunlich schnell wieder hinter uns. Dann kommt der Große Storkower See an die Reihe, der von dunklen Kiefern, Rohr und Schilf gesäumt wird.
Noch eine Selbstbedienungsschleuse in Wendisch Rietz bei SkG-km 22,7, und er liegt vor uns: der Scharmützelsee. Theodor Fontane, großer Reisender und Dichter Brandenburgs, erblickte den sich über mehr als zehn Kilometer erstreckenden See auf einer Wanderung 1881 und gab ihm den Namen „Märkisches Meer“.
Zu Fontanes Zeiten war Bad Saarow an seinem Nordende noch ein ländliches Nest. Erst zum Ende des Kaiserreiches begann mit der Bahnanbindung und der Eröffnung des ersten Moorbades ein verhaltener Kulturbetrieb. Das änderte sich in den „Goldenen Zwanzigern“ schlagartig: Auf einmal war Berlin der kulturelle Nabel der Welt, und die Hautevolee der Stadt benötigte einen Ort zum Ausspannen – mit Schick, versteht sich.
Eine glänzende Perle im Sand
Das gilt noch immer: Bad Saarow ist mit seiner edlen Bausubstanz unter den schattigen Alleen längst wieder zur glänzenden Perle im märkischen Sand geworden, und die moderne Therme mit dem hohen Wohlfühlfaktor zu einem Anziehungspunkt für Entspannungssuchende bis weit über die Grenzen der Region hinaus. Aber auch der „alte“ Kurort kann sich sehen lassen: Zum Beispiel der Bahnhof aus Kaisers Zeiten – oder das Hotel-Restaurant „Die Bühne“ gleich nebenan, mit seiner liebevoll gestalteten Mischung aus Jugendstil-Wohnzimmer, wilhelminischem Wartesaal und ansprechender, kreativer Küche. www.bahnhofshotel-diebuehne.de
Einen freien Liegeplatz finden wir übrigens im Sportboothafen „Freilichtbühne“, dessen Betonschwimmstege mit soliden Fingern ausgestattet sind. Service: Strom, Wasser, Sanitärgebäude; Liegegebühr: 1 Euro/Meter, 1,50 Euro Kurtaxe pro Person/Tag, pauschal 1,50 Euro Nebenkosten pro Person/Tag; Duschmarken 1 Euro für 5 Minuten. www.bad-saarow.de Einkaufen: Edeka (Pieskower Straße).
Am nächsten Tag machen wir uns auf den Rückweg und lernen die Storkower Gewässer nicht nur in der anderen Fahrtrichtung mit völlig neuen Blickwinkeln kennen, sondern auch bei wesentlich sonnigerem Wetter. Es ist Himmelfahrt, und entlang der Uferwege sind die Herrentags-ausflüge unterwegs, mal mit geschmückten Bollerwagen, mal auf dem Drahtesel – und mit zunehmender Heiterkeit, je weiter der Tag voranschreitet.
Ausklang zur blauen Stunde
Auch auf dem Vereinsgelände der Storkower Rudervereinigung (SkG-km 16,4), wo wir bereits am frühen Nachmittag festmachen, wird bei bester Stimmung schon fleißig gezapft und gegrillt. Mit „Wegzehrung“ in jeder Hand machen wir uns auf den Weg zur Burg Storkow, die etwa einen Kilometer entfernt südöstlich liegt. In dem wuchtigen, vor wenigen Jahren restaurierten Backstein- und Fachwerkbau ist das Informationszentrum des Naturparks Dahme-Heideseen mit interessanter Ausstellung untergebracht. www.storkow.de
Hungrig und durstig zurück bei der Rudervereinigung, stellen wir erleichtert fest, dass weder Fass noch Grill bereits geleert sind. Dann machen wir es uns auf dem Achterdeck unserer Linssen mit freiem Blick auf den See gemütlich. Service: Strom, Wasser, Sanitärräume; Liegegebühr: 1 Euro/Meter, 1 Euro pauschal pro Person, 2 Euro pauschal für Strom. Vorsicht: Nur am hinteren Teil der Stege anlegen, da der Grund zum Ufer hin schnell flach wird. Essen: Steakhaus „Matador“, (Reichenwalder Straße), Einkaufen: Edeka, Lidl (Rudolf-Breitscheid-Straße).
Bei strahlend blauem Himmel sind wir am Mittag des folgenden Tages zurück bei Kilometer 0 der Storkower Gewässer und zurück auf der Dahme, allerdings nur für einen weiteren Kilometer. Denn dann zweigen – diesmal nach Südosten – die Teupitzer Gewässer ab. Den Anfang macht der Schmöldesee, schmal und mit steilen Uferhängen. Im Schatten der Kiefern ankern Dutzende von Motorbooten, mal im Päckchen, mal allein, vor Bug- oder Heckanker, während die Landleine zum nächsten Baumstamm führt. Überall herrscht Muse unter aufgespannten Sonnenschirmen, und das Wasser glitzert fast schon sommerlich.
See reiht sich nun an See: Nach dem Hölzernen folgt der Kleine Köriser See, danach die beiden Modderseen (klein und groß) und schließlich – vor dem Schulzensee – die alte Klappbrücke Groß Köris (TpG-km 11,85). Im geschlossenen Zustand ist sie mit 1,50 m lichter Höhe nur für kleine Boote passierbar. Für die anderen heißt es warten: Geöffnet wird per Hand zwischen 8 und 19 Uhr jeweils zur vollen Stunde. Aber Vorsicht beim Festmachen an den morschen und zum Teil abgebrochenen Dalben: Die Leinen rutschen leicht herunter, und man muss auf den Sog achten, wenn ein Fahrgastschiff die Wartestelle passiert.
Am Ende der Teupitzer Gewässer (und fast am Ende unseres Törns) liegt Teupitz selbst, versteckt in einem Winkel am südwestlichen Ende des gleichnamigen Sees. Unser Ziel dort ist der Stadthafen (Service: Strom und Wasser, Sanitärräume; Liegegebühr: 1 Euro/Meter, 1,50 Euro/Duschmarke, 0,50 Euro/Kilowattstunde Strom). Was bleibt? Ein herrlich lauer Abend und ein See, der zur „blauen Stunde“ zum tiefgründigen Spiegel wird. Durchatmen! Morgen geht’s zurück nach Berlin – doch unsere kleinen Fluchten sind gelungen!
BOOTE 11/2013
von Christian Tiedt